103km beim Dolomiti Extreme Trail

98,32 km Distanz
18:57:05 Bewegungszeit
11:33 /km Tempo

Verstrichene Zeit: 24:13:05
Ø-Puls: 127 bpm
Höhenmeter: 5.882 m

Letztes Jahr bin ich 100km durch den Schwarzwald gelaufen – das war der Ersatz für den coronabedingten Ausfall des Dolomiti Extreme. Dabei war es nicht mal ansatzweise mit diesem Lauf zu vergleichen.

Das schlimmste war die Nacht. 6 1/2 Stunden bin ich dem hellen Fleck der Stirnlampe hinterher gelaufen – das war so anstrengend, dass mein Kopf morgens so erschöpft war, dass ich den Lauf bereits nach 15km abbrechen wollte.

Vermutlich über 90% der Strecke waren Singletrails – auch in der Nacht. Ich bin ein paar mal umgeknickt, wir haben uns einmal als Gruppe und ich einmal alleine verlaufen. Morgens mussten wir dann auch noch über Schneefelder laufen. In einem bin ich weggerutscht und hatte direkt einen Krampf in der Wade. Später hab ich bei einem Skihang (ohne Schnee), den wir vertikal, ohne Trail bergab gelaufen sind, den Halt verloren und bin kurz ins Rutschen gekommen. Die Folge: Krampf im Oberschenkel. Der Lauf wurde zum Kampf.

Sonnenaufgang als
schwacher Trost

Nach der Hälfte des Rennens wollte ich auszusteigen – meine Startnummer war die 50, da schien es mir passend nach 50km aufzuhören. Von der Hälfte hätte ich den Shuttle zum Start nehmen können, aber durch literweise Cola und viel Essen war die Moral in meinem Kopf wieder etwas besser als am Morgen – noch hilfreicher: digitale Unterstützung über WhatsApp. Also bin ich weiter gelaufen, um zu schauen, wie weit es noch gehen könnte.

Meine Ausdauer war nicht das Problem. Auch die Beine gingen, allerdings brannten meine Fußsohlen und mit Laufen hatte das nichts mehr zu tun. Es war eher wandern mit kurzzeitigem Laufen. Aber ich war nicht der einzige, der gelitten hat.

Nach 80km kam kurz vorm höchsten Punkt das längste Schneefeld. Hölle. Aber Hölle war eigentlich der ganze Lauf. Vor dem Schneefeld hat sich ein Läufer auf seine Rettungsdecke gelegt, um kurz zu schlafen und für die letzten 20km wieder zu Kräften zu kommen.

Am schlimmsten war der allerletzte Anstieg. Beim letzten Verpflegungspunkt wurde mir gesagt, dass es nur noch bergab geht. Aber anstatt auf direktem Weg ins Ziel zu laufen, führte die Route nochmal steil über einen Singletrail bergauf, danach immerhin über einen Forstweg bergab nach Forno di Zoldo. In der Zwischenzeit war es wieder dunkel und ich musste wieder mit Stirnlampe laufen. In Forno di Zoldo war ich völlig dehydriert, weil ich nicht mit dem letzten Anstieg gerechnet hatte und glücklich, dass direkt am Ortsanfang ein Brunnen war.

Auf den letzten drei Kilometern hat dann jeder Helfer gesagt, dass es nur noch ein Kilometer sei. War zu dem Zeitpunkt aber egal, ich wusste, ich finishe, obwohl ich fast 20 Stunden vorher bereits aufgeben wollte.

Knapp über 24 Stunden hab ich gebraucht. Es war vielleicht das schlimmste, das ich je gemacht hab. Wer sich unbedingt mal quälen will und die eigene Leidensfähigkeit fordern möchte, ist hier richtig. Der Spaß am Sport bzw. der Natur ist bei diesem Lauf zweitrangig.

Kein Blick für
den Ausblick

Ich war mit einigen anderen Teilnehmern daher der gleichen Auffassung: wir kommen nicht nochmal. Einer meinte auch, dass das der härteste 100km Traillauf sei. Nicht nur wegen dem Profil, sondern wegen der Streckenführung über Singletrails.

Wann wird das Extreme zu verrückt?

Als verrückt bezeichnen wir Eigenschaften, Handlungen oder Gedanken, die außerhalb der Normen und Regeln liegen in denen wir uns alltäglich bewegen.

Für manche ist es verrückt, roten Lippenstift oder bunte Socken zu tragen, weil das in ihrem Umfeld bereits etwas Besonderes ist. Für andere ist ein Fallschirmsprung eine Grenzerfahrung oder wir kommen beim Sport an unsere Grenzen.

Grenzen sind flüchtig.

Wo unsere Grenzen liegen, wissen wir nicht, weil uns nicht nur der Kopf in unsere Schranken verweist. Wer glaubt, die eigenen Grenzen zu kennen, wird überrascht sein, was möglich ist, wenn wir an unsere Grenzen stoßen. Grenzerfahrungen helfen mir dabei meine Stärken und Schwächen zu erkennen. Ich suche mir bewusst Bereiche bei denen ich an meine Grenzen kommen, denn jede Grenzerfahrung verschiebt meine eigene Grenze.

Verrückt wird es erst, wenn wir uns dabei selbst schaden. Deshalb war ich beim 103k Dolomiti Extreme Trail kurz davor den Lauf abzubrechen. Ich wollte bis zur Hälfte laufen, um mir zu beweisen, dass ich auch stundenlang körperlich leiden kann, wenn es sein muss. Dadurch das ich nachts einige Male umgeknickt bin und morgens zwei Mal weggerutscht bin, wollte ich aber nicht riskieren, dass ich mich im Verlauf des Rennens verletze und dann im Anschluss denke: Du hättest es wissen können.

Das Höhenprofil des 103km langen DXT
Quelle: dolomitiextremetrail.com

Das Problem: der Kopf allein weiß nicht, wann genug ist. Ich weiß nicht, wann der Punkt erreicht ist, dass meine Grenze reißt und ich über den Tellerrand falle, deshalb bin ich schon ein paar Mal über den Rand gerollt. Ich hab mir beispielsweise nach einem stressigen Tag beim Fußball spielen die Bänder gerissen oder mich nach einer sportlichen Leistungsprüfung übergeben, weil ich jeweils meine Grenzen falsch eingeschätzt hab. Der Kopf quittiert bei mir oft vor dem Körper, deshalb gehören Stürze (leider) dazu, um herauszufinden, wie ich merke, dass auch mein Körper nicht mehr kann.

Mein Körper konnte beim Traillauf in den Dolomiten noch, aber mein Kopf hat nach über sechs Stunden Dunkelheit – der Lauf beginnt im Dunkeln um 22 Uhr – nicht mehr gewusst, wo die Beine hinlaufen sollen. Nachts musste ich mich die ganze Zeit auf den kleinen hellen Fleck der Stirnlampe konzentrieren und beim Sonnenaufgang war meine Konzentrationsfähigkeit plötzlich weg. Der Kopf dachte wohl, dass der Körper im Hellen von alleine laufen kann. Dieser Zustand hat mich besorgt und war der Auslöser dafür, dass ich aufhören wollte. Wenn Kopf und Körper nicht mehr zusammenarbeiten können, dann wird es verrückt, weil wir nicht mehr wahrnehmen können, was in und um uns passiert.

Manchmal wollen wir diesen Zustand. Wir wollen im Flow sein, um durch die Welt zu fliegen. In ganz wenigen Situationen war ich während des Laufs im Flow: Bergab. Wer denkt, dass das daran liegt, weil es leichter ist den Berg runterzulaufen, war noch nie in den Alpen. Eigentlich ist es „leichter“ bergauf zu laufen. Wenn man wegrutscht kann man sich schneller fangen und das Tempo ist nicht so hoch. Bergauf konnte mein Kopf aber das körperliche Leid nicht ausblenden. Jeder Schritt tat weh. Meine Fußsohlen haben gebrannt. Aber auch bergab war ich nicht im Runner’s High, das Hochgefühl beim Laufen. Ich hab mir den Lauf bis zum Ziel schön geredet und mir vorgestellt, wie ich erleichtert über die Ziellinie laufe.

Der Zieleinlauf
beim DXT

Die Erleichterung ist mir vielleicht nicht anzusehen, aber wenn ich daran denke, wie sehr sich drei Kinder gefreut haben, dass ich kurz vorm Ziel ihre Hände abgeklatscht hab, schießen mir Tränen in die Augen. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung und der Lauf ist eigentlich nur eine Metaebene für die dabei gewonnen Erfahrungen, Emotionen und Erlebnisse. Es war für mich ein Blick in den Spiegel. Es war Kunst.

2020 wollte ich durch den Sport einen anderen Blickwinkel auf die Kunst legen. Die meisten Künstler leiden beim Entstehungsprozess ihrer Werke. Dieses Leid ist aber selten im Werk sichtbar und auch nicht unbedingt wichtig. Ein gutes Kunstwerk sollte die Betrachtenden ohne zusätzliche Erklärungen berühren. Ich hab meine Kunstwerke jahrelang als Abfallprodukte bezeichnet, weil sie mich nicht mehr berührt haben. Mich hat der Weg zum Werk berührt. Der Kampf mit der Kunst. Das Leid, und die Erkenntnis am Ende etwas Wundervolles erschaffen zu können.

Der Reiz in der Kunst liegt für mich darin immer wieder Neues zu erschaffen. Ich kann nur Neues erschaffen, wenn ich an meine persönlichen Grenzen stoße. Zuletzt hat das „extreme“ Ausmaße angenommen. Ich bin 2020 über 12.000km mit dem Fahrrad durch Deutschland gefahren und hab jetzt einen 100km Traillauf in den Alpen absolviert. Die nächsten Herausforderungen mögen weniger extrem wirken, aber sie werden mich wieder an meine Grenzen bringen und ich freu mich, wenn mich andere auch künftig für verrückt halten, weil es bedeutet, dass ich mich weiterentwickle und neue Erfahrungen sammle.

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P.S. Ein großer Dank an alle, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben. Ich bin zwar alleine gelaufen, hab mich aber zu keinem Zeitpunkt allein gefühlt.
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Die Daten stammen von meinem Strava Profil.

Wenn das Training einem Trainingsplan folgt, finden sich immer wieder folgende Abkürzungen in den Texten oder Titeln:

  • DL (Dauerlauf)
  • EL (Einlaufen)
  • TP (Trabpause)
  • AL (Auslaufen)
  • Langsamer DL (Puls 65% – 70% der max. Herzfrequenz)
  • Ruhiger DL (Puls 70% – 75% der max. HF)
  • Lockerer DL (Puls 75% – 80% der max. HF)

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