»Der perfekte Moment…

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Blog Freilichttexterei
Inspiration, Kreativität
…wird heut verpennt“« von Max Raabe feat. Samy Deluxe dröhnt über Kopfhörer in meine Ohren. Ich sitz singend auf meinem Schreibtischstuhl, schreibe diesen Text, wippe mit dem Körper zum Beat und wer mich dabei schon einmal beobachten konnte, weiß, dass es cooler klingt als es aussieht: mein Gesang klingt vor allem schräg.

In meiner alten WG saß ich regelmäßig in meinem Zimmer und hab mit Kopfhörern den Mix der Woche bei Spotify hoch und runter gegrölt. Meine alte Mitbewohnerin hat mich mal gefragt, ob ich das immer noch mache – eigentlich nicht.

Bin ich erwachsen geworden? Ich wohne seit ein paar Jahren alleine und hab fast genauso lange einen Arbeitsplatz angemietet. Anfang des Jahres meinte eine Freundin, dass ich nicht mehr so häufig lachen würde. Ein Freund, dass ich jedes Mal genervt wirke, wenn wir uns sehen. Beides hab ich damals verneint, obwohl rückblickend vielleicht was dran war.

Und warum finde ich in der Krise meine Lockerheit zurück?

Fast fünf Wochen hab ich mich mehr oder weniger komplett isoliert. Ich war nur für Sport und zum Einkaufen draußen. Einmal hat mir eine Freundin einen Osterkuchen vor die Tür gestellt. Zwei Mal ein Freund etwas vorbeigebracht bzw. abgeholt. „Corona ist der radikalste Entschleuniger seit 200 Jahren“, sagt Prof. Rosa im SWR1 Leute Talk, „weil wir seit dem 18. Jahrhundert die Welt immer stärker in Bewegung versetzt haben.“ Darüber schreibt auch Ralf Konersmann in ‚Die Unruhe der Welt’. In dem Buch geht es nicht, um Konflikte, sondern um die zunehmende weltweite Beschleunigung, die wie Prof. Rosa sagt, auch durch Kriege nicht gebremst wurden.

Wir empfinden diese Entschleunigung aber nicht zwangsweise als Beruhigung, weil sie von außen – von der Politik – bestimmt wurde und die persönlichen Aufgaben dadurch nicht automatisch weniger werden; und es kommen beispielsweise Sorgen zur beruflichen Zukunft neu dazu. „Eine Zwangsentschleunigung ist wie ein Verkehrsstau“, sagt Prof. Rosa im SWR1-Talk, „und einen Stau kann man nicht genießen, wenn man drinsteht.“ Wie einen Stau empfinde ich die aktuelle Zeit zwar nicht, aber das Bild finde ich schlüssig.

Meine Gefühlslage kann ich aktuell nicht beschreiben. Ich werd regelmäßig gefragt, ob ich einsam bin, wie ich finanziell auskomme und ob alles gut ist. Alles ist gut. Es hat sich nicht viel verändert, entgegne ich meistens. Stimmt zwar nicht, aber es ist auch nicht alles auf den Kopf gestellt.

Die Krise wird von vielen als Lupe beschrieben, die Probleme sichtbar macht, die bereits vor der Krise existiert haben und jetzt in den Fokus rücken. Auch bei dieser Einschätzung gefällt mir das beschriebene Bild. Bei mir hat die Lupe aber nicht nur Probleme sichtbar gemacht, sondern ich hab durch sie die Leichtigkeit wiederentdeckt. Durch die Krise wurde meine komplette Jahresplanung überflüssig. Das ist nicht schlimm. Jetzt kann ich wieder improvisieren. Ich will zwar weiterhin ausschließlich mit dem Rad verreisen, aber genieße es grade sehr in meinem Schreibtischstuhl zu sitzen und „Der perfekte Moment… wird heut verpennt“ in Endlosschleife zu hören, mitzusingen und mitzupfeifen.

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„Der Moment ist perfekt. Ich kann alles durchschauen. Transparenter Effekt so als ob ich ein Fensterplatz hät“, rappt Samy Deluxe und weiter: „Anstatt über einen roten Teppich zu rennen, verweile ich lieber im Bett und penn.“ Ich schlafe zwar nicht länger als sonst, sondern freu mich weiterhin jeden Morgen laufen zu gehen, aber das Projekt #graveltravel ist hiermit offiziell abgesagt.

Ab sofort: klein, aber fein.

Wie meine YouTube-Reihe im letzten Jahr sollte das Projekt #graveltravel aus klug komponierten Videos bestehen, die ich mit Blog-Texten, Fotos auf Instagram und möglicherweise auch wieder ein paar Podcast-Folgen kombinieren wollte.

Dabei war das letzte Jahr Wahnsinn. Ich weiß rückblickend nicht, wie ich den ganzen Arbeitsaufwand bewältigen konnte. Auch mein Körper hatte sich vor der Leistung nicht verneigt, sondern ist in die Knie gegangen. Eine Grippe, Lebensmittel- und Alkoholvergiftung haben mich aber nicht davon abgehalten in diesem Jahr ein ähnlich großes Projekt in Angriff zu nehmen. Ich wollte ausschließlich mit dem Rad verreisen und an zahlreichen Laufveranstaltungen, wie dem 103k Dolomiti Extreme Trail in den Dolomiten, teilnehmen. Die Läufe finden aber nicht statt und Auslandsreisen sind aktuell auch nicht möglich.

Stattdessen will ich die 100km mit einem Freund im Schwarzwald laufen und einen Halbmarathon wollen wir ebenfalls privat organisieren. Auf Strava hab ich andere Sportverrückte in Düsseldorf kennengelernt und ich bin nicht nur zwei Mal mit dem Rad für den Drielandenpunttrail nach Aachen gefahren, sondern unter anderem auch zum Instameet von @rewindcologne in Köln – das war kurz vor Corona, mit einer kleinen Gruppe und analogen Kameras. Seit ich die entwickelten Fotos gesehen hab, hab ich wieder Lust auf Instagram und poste auch wieder regelmäßig Fotos und Geschichten.

Das werde ich auch weiterhin tun. Und es wird bestimmt auch andere Inhalte, wie Videos oder Texte, geben. Aber die kreative Dauerbelastung ist für mich schlimmer als jeder Dauerlauf. Im Gegensatz zum Lauftraining kann ich die kreative Arbeit nämlich nicht dosieren. Seit Wochen trainiere ich nach einem festen Trainingsplan, der dafür sorgt, dass die Belastung für meinen Körper nicht zu groß wird. Kunst ist für mich aber nicht plan-, trainier- oder dosierbar und lief zuletzt nur noch im Wettkampfmodus.

Das war mal anders. Viele Arbeiten sind ohne Ziel, sondern aus dem Moment entstanden. Es ging mir nicht um das perfekte Ergebnis, sondern um neue Ideen. Anstatt einen roten Faden, hab ich neue Gedanken gesponnen und bin ziellos von Idee zu Idee gelaufen.

JUST START:
das Klebepuzzle

Die Idee für das Klebepuzzle kam mir während meines Studiums in Heidelberg. Die Puzzleteile werden auf eine Vorlage geklebt. Die Teile sind überlappend, aber vollflächig bedruckt und können in einer beliebigen Reihenfolge auf die Vorlage geklebt werden. Ursprünglich wollte ich das Puzzle ohne Vorlage verkaufen, aber die ersten Testpersonen fanden es zu kompliziert. Das Puzzle sollte Spaß machen und gehörte zu einer Reihe von Produkten, die ich mir überlegt hatte, um nicht nur eigene Arbeiten zu verkaufen, sondern Käufern die Möglichkeit zu geben selbst kreativ zu werden.

Dazu gehörte beispielsweise auch ein Set mit allen Teilen, die man für Mondrians ‚New York City I’ benötigt: ein zerlegter Keilrahmen, Farbstreifen und Reißnägel. Ich wollte damit aber nicht bezwecken, dass der Käufer die Farbstreifen wie Mondrian über den Rahmen spannt, sondern sich eine eigene Komposition überlegt.

JUST START:
(D)ein Mondrian

Perfektion und der perfekte Moment sind ist aus meiner Sicht keine Ziele, die ich erreichen kann, sondern beides überkommt mich, wenn das Gefühl passt. Und das Gefühl hat zuletzt nicht gepasst. Ich hab mir extra für meine Radreisen kabellose Kopfhörer gekauft, weil ich es bei Reisen mit meinem VW-Bus geliebt hab, im Auto laut zu singen. Der perfekte Moment: über die Landstraße fahren, Musik aufdrehen und am Steuer laut die Lieblingslieder singen. Dieses Gefühl hatte ich beim Rad fahren bislang noch nicht. Statt zu singen, hab ich mich auf meiner Tour nach Aachen gefragt, ob es ein guter Moment zum Filmen ist, ob ich über die Reise einen Blogartikel schreiben soll, wo ich ein Foto für Instagram machen kann, wie ich meine Reisen als Kunstwerk rechtfertigen kann, usw. – dabei will ich einfach nur durch die Gegend radeln und singen: Der perfekte Moment…

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