Wie Gewalt zu Genuss wird?

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Es geht weder um Sadismus, noch um Masochismus, sondern um die Frage, wie körperliche Herausforderungen zum Genuss werden können.

Mein Vater hat früher gerne „Gewalttouren“ unternommen. So bezeichnete er Radtouren, die den ganzen Tag dauerten und bei denen er weit über 100km unterwegs war. Am nächsten Tag hatte er meistens Muskelkater – vermutlich einer der Gründe, warum er von „Gewalttouren“ gesprochen hat.

Für meinen Wochenendausflug nach Berlin bin ich zuletzt über 200km an einem Tag gefahren. Für mich eine gewaltige Leistung, die im letzten Jahr undenkbar gewesen wäre. Aber auch jetzt spul ich solche Strecken nicht einfach ab, sondern es ist ein stetiges Zwiegespräch zwischen Kopf und Körper. Ein Wechselspiel bei dem mal der Kopf, mal der Körper dominieren und den Gegenspieler davon überzeugen müssen weiterzufahren.

231,50 kmDistanz
11:28:30Bewegungszeit
20,2 km/hTempo
+
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Die erste Etappe meiner Tour nach Berlin.

Warum tu ich mir das an?

Mehrmals hab ich mich auf der 600km langen Strecke von Düsseldorf nach Berlin gefragt, warum ich mir das antue. Und warum ich ein Jahr lang mit dem Rad verreise. Eine Antwort hab ich immer noch nicht. Ich könnte aber auch nicht antworten, warum ich diesen Text schreib. Warum ich morgens aufstehe, warum ich arbeite, warum das Leben einen Sinn hat. Es hat einen Sinn, aber mit einem Satz oder einem einzigen Grund, könnte ich es nicht begründen. Ich kann mich den Antworten nur annähern.

Statt mir die Frage nach dem Sinn der jeweiligen Reise zu beantworten, beschäftige ich mich daher lieber damit einen regelmäßigen Tritt zu finden. Morgens ohne Musik im Ohr. Ohne Ablenkung. Nur ich, das Surren der Kette und mein Körper. Wenn mein Körper den richtigen Rhythmus gefunden hat, ist auch mein Kopf beruhigt und stellt den Sinn der Reise nicht weiter infrage. Kurz hab ich dann das Gefühl stundenlang fahren zu können. Dann meldet sich der Körper. Um die Balance zu halten, muss ich dran denken regelmäßig etwas zu essen und zu trinken. Allerdings zerstört jede Pause den Rhythmus, deshalb ernähre ich mich hauptsächlich von Energygels und Riegeln, die ich während der Fahrt esse.

Zwölf Stunden würde ich allerdings auf diese Weise nicht durchhalten. Spätestens nach fünf Stunden zieh ich mir Kopfhörer auf, um Musik zu hören. Die Musik bringt mich dann wieder in den Tunnel, den ich bei langen Touren sonst nicht aufrecht erhalten könnte. Podcasts sind mir übrigens zu stressig, weil mein Kopf beim Zuhören so sehr gefordert wird, dass es nur noch anstrengender wird. Das ist aber bei jedem anders, daher ist eine persönliche Strategie wichtig, damit Körper und Kopf sich nicht gleichzeitig hängen lassen.

(M)eine Strategie

Ich versuche immer den aktuellen Stand und das was vor mir liegt zu visualisieren. Immer mit einer positiven Grundhaltung: das Glas ist halb voll, nie halb leer. Wenn ich ein Viertel der Strecke zurückgelegt hab, hab ich schon ein Viertel geschafft. Und das erste Viertel sollte idealerweise wie im Flug vergehen. Ansonsten hätte ich meine Leistungsfähigkeit falsch eingeschätzt. Das gilt auch bei Wettkämpfen. Ein Viertel muss sich so anfühlen, dass ich ewig weitermachen könnte. Nach einem Viertel kommt relativ schnell ein Drittel und dann mein Tiefpunkt, denn von einem Drittel bis zur Hälfte dauert es länger; und daran schließt nochmal die gleiche Strecke an. Diese Gedanken bekomme ich nie verdrängt. Egal ob ich 100km oder 200km unterwegs bin.

Fünftel, Viertel, Drittel, Hälfte – Skala der Strapazen

Bei langen Läufen oder Radtouren ist dieser Zeitpunkt besonders kräftezehrend, deshalb mach ich dann eine Pause. Bei meiner Tour nach Berlin hab ich während der Pausen meistens Käsebrötchen gegessen oder bin mit der Drohne geflogen, um danach wieder „neu“ zu starten. Das funktioniert bis zum nächsten Tief, das meistens nach zwei Dritteln der Strecke kommt. Danach beginnt je nach Streckenlänge und -profil die Gewalt. Wenn weder Kopf noch Körper wollen, aber ich irgendwie bis zum Ziel kommen muss. Ein Ziel definiere ich immer vorher und hab nie den Plan soweit zu laufen oder zu fahren, wie ich es schaffe. Denn zu diesem Zeitpunkt bin ich oft so geschafft, dass ich wissen will, wie der Plan für die letzten Kilometer ist. Bei meiner Tour nach Berlin hab ich mir die Campingplätze vorher rausgesucht und meistens kurz davor einen Supermarkt angesteuert.

Wenn mein Plan aufgegangen ist, folgt der Genuss. Die Genugtuung, wenn ich merke, dass ich meine Grenze ausgereizt oder wieder etwas verschoben hab. Es ist zwar auch schön durch blühende Landschaften zu fahren, aber richtig genießen kann ich eine Tour erst rückblickend. Gewalt und Genuss gehen bei mir nicht gemeinsam, doch es bleibt nur das gute Gefühl – sonst würde sich kein Sportler den Strapazen aussetzen.

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Video des Trips von Düsseldorf nach Berlin.

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