Als ich in der Ferne die ersten frei laufenden Rentiere sehe, fahr ich schnell rechts ran und beobachte sie aufgeregt mit einem polnischen Ehepaar. Sie versucht mit ihrem Selfiestick schöne Fotos mit den Tieren im Hintergrund zu machen. Er beobachtet die Rentiere mit seinem Fernglas und weist mich, den Drohnenpiloten, an, wie ich am besten zu den Tieren fliege. Die Kommunikation läuft über Hände und Füße, denn die Sprache des jeweils anderen können wird nicht.
Vorbeifahrende Einheimische haben beim Anblick unserer temporären Reisegruppe vermutlich mit dem Kopf geschüttelt. Aber
mir war nicht klar, dass sich die Tiere bald am Straßenrand tummeln werden.
Wo ist
Santa Claus?
Je näher ich dem Nordkapp komme, umso nervöser werde ich. Als ob ich grade dem Höhepunkt mit großen Schritten entgegen eile. Jeder gefahrene Meter euphorisiert mich mehr und kurz vorm Nordkapp hab ich das Gefühl vor Anspannung zu platzen. Keine Zeit mehr für Fotos vom Wegesrand, ich will zum Abschluss kommen und den (fast) nördlichsten Punkt Europas genießen.
Kurz vorm Höhepunkt dann der Spannungsabfall. Meine Fahrt endet nüchtern an einer Parkplatzabsperrung und bevor meine Euphoriebombe platzen kann, muss ich für mich und mein Auto Eintritt zahlen. Stimmungskiller. Es gibt nichts Schlimmeres als kurz vorm Höhepunkt abgeschossen zu werden.
Vorsicht
Grenzkontrolle!
Das Nordkapp ist so touristisch, dass selbst mein Reiseführer mich vorgewarnt hat. Traumatisiert, statt traumwandlerisch laufe ich durch den Souvenirladen und kaufe ein Dutzend Postkarten. Ein Dutzend! Dabei muss doch nicht die ganze Welt von meinem verpassten Höhepunkt erfahren.
Nachdem ich die Karten geschrieben hab, verlasse ich das Nordkapp. Enttäuscht. „So nicht!“, denk ich mir – „Dann hol ich mir meine Befriedigung eben selbst!“
Daraufhin versuche ich stundenlang ein schönes Foto zu schießen, um das Nordkapp nicht mit leeren Händen zu verlassen. Als der Sonnenuntergang bevorsteht, bin ich mit meinen fotografischen Ergebnissen nicht zufrieden. Ich fange an diesen Text zu schreiben und schau mir dabei den Sonnenuntergang aus sicherer Entfernung zum Nordkapp an.
Während dem Sonnenuntergang wandelt die rauhe, nordische Landschaft regelmäßig ihr Antlitz und zeigt sich in so wunderbar zarten Farben, dass ich parallel zum Verfassen dieses Textes die wechselnde Stimmung fotografiere.
Die feinen Farbübergänge könnte kein Maler dieser Welt präziser auftragen. Im Gegensatz zur Fotokamera könnte er sie höchstens realistischer abbilden. Denn es ist schwer die Landschaft so zu fotografieren und nachzubearbeiten, dass die Farben nicht überzeichnet sind und trotzdem wie in Wirklichkeit strahlen. Die Fotos sollten auf jeden Fall nicht wie die kitschigen, übersättigten Postkarten im Souvenirshop aussehen.
Kurz bevor die Sonne untergegangen ist, beschließe ich dem Nordkapp eine zweite Chance zu geben und fahre nochmal zum Ort meiner Enttäuschung. Bei meiner Ankunft fehlt die unfassbare Vorfreude des ersten Besuchs, aber in der zweiten Reihe komme ich doch noch zum Happy End und bewundere die Reste der untergegangenen Sonne am Horizont.
Pro-Tipp an alle Reisewilligen: Wartet auf jeden Fall den Sonnenuntergang ab und fahrt vielleicht nicht alleine zum Nordkapp. Einen Höhepunkt zu teilen, ist doch viel geiler.